Die Abtrennung des Corona-Themas vom Ordner "Politik" ist schon Ende 2020 in der Hoffnung erfolgt, dass es sich bald um Zeitgeschichte handeln wird. (Das hat sich leider als Irrtum erwiesen.) Aus meiner Sicht zeigt der Umgang mit diesem Thema seit nunmehr zwei Jahren einen Mangel an Rationalität und Seriosität auf, welcher die Politik, aber auch die Berichterstattung darüber, heutzutage leider generell kennzeichnet. Populismus auf allen Seiten und Meinungsmache statt Information, wohin man blickt.
Wer den mündigen Bürger Immanuel Kants aus den Augen verliert, der ist nach meinem Dafürhalten nicht dazu qualifiziert, in einer Demokratie Politik zu machen. Gleiches gilt für Volksvertreter und Medienleute, die mit Unterstellungen und Beleidigungen operieren, statt sich an der Faktenlage zu orientieren. Es wäre daher hoch an der Zeit, zu einer politischen Kultur zurückzufinden, wie ich sie in meiner Jugend und bis in die 1980er-Jahre hinein in Österreich noch erlebt habe.
Um Neujahr 2022 herum hat Österreich Schweden hinsichtlich der Zahl der Ein-wohner, die an oder mit Corona verstorben sind, überholt, und derzeit kommen auf eine Million Einwohner 2.200 Tote in Österreich und 1.868 Tote in Schweden (Quelle: Our World in Data). Geradezu gigantisch ist der Unterschied bei den durchgeführ-ten PCR-Tests pro tausend Einwohner: In Österreich 20.400 gegenüber 1.800 in Schweden. Was für eine Geldverschwendung ohne erkennbaren Nutzen! Und die Impfquote (zwei Impfungen) beträgt in Österreich etwas über 74 Prozent gegenüber Schweden mit etwas unter 74 Prozent. Hier also sogar ein leichtes Plus für Öster-reich und daher ist eine Impfpflicht hierzulande als einzigem Land in Europa (abge-sehen vom Vatikan) keineswegs gerechtfertigt.
Als Nicht-Jurist maße ich mir nicht an, in diesem Statement die einschlägige Rechtslage Wort für Wort richtig zu interpretieren. Als ein im logischen Denken geschulter Mathematiker und in der Tradition der Aufklärung verwurzelter Europäer gehe ich jedoch davon aus, dass ich die in allen westlichen Demokratien geltenden Verfassungsbestimmungen hinsichtlich der Freiheitsrechte ihrer Bürger und allfälliger Einschränkungen derselben sinngemäß richtig auslege.
Danach gilt die Selbstbestimmung über den eigenen Körper als Grundrecht. Auch Behandlungen zum Wohle eines Betroffenen können nur mit dessen ausdrücklicher Zustimmung vorgenommen werden, sofern dieser ansprechbar und nicht bevormundet ist. Ansonsten kann die Selbstbestimmung nur beschränkt werden, wenn dies als Schutzmaßnahme für Dritte unabdingbar ist.
Dieser Ausnahmefall erscheint angesichts der aktuellen Corona-Situation aber keineswegs gegeben. Insbesondere kann, wie vormals befürchtet, von einem drohenden Zusammenbruch des Gesundheitswesens keine Rede sein, was die laufenden Lockerungsmaßnahmen ja wohl bestätigen. Auch die aktuelle Stellungnahme des Tiroler und ehemals gesamtösterr. Ärztekammerpräsidenten Wechselberger liegt auf dieser Linie. Damit verletzt eine Impfpflicht zum jetzigen Zeitpunkt nach meinem Dafürhalten ganz klar die durch die Verfassung garantieren Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger.
Am 10. Februar 2022 haben die „Salzburger Nachrichten“ eine Umfrage durchgeführt, bei welcher der Satz „Ich bin generell gegen die Impfpflicht, denn die Impfung sollte eine persönliche Entscheidung sein“ auf 63 % Zustimmung gestoßen ist gegenüber nur 17 % von Impfpflicht-Befürwortern. Das hat mich insofern positiv überrascht, als ich auch in meinem Bekanntenkreis laufend höre, die Impfunwilligen müsse man eben zwingen, und damit sei das Problem dann wohl ausgestanden.
Sosehr ich Verständnis für den Wunsch eines Geimpften habe, dass der Spuk endlich ein Ende hat, so wenig Verständnis kann ich dafür aufbringen, wenn diesem Wunsch die durch unsere Verfassung garantierten Rechte von Mitbürgern leichtfertig geopfert werden. Ganz abgesehen davon ist auch der erwartete Erfolg dieser Maßnahme keineswegs sicher, wie die annähernd gleiche Anzahl von Geimpften und Ungeimpften in den Kliniken belegt, und umgekehrt ist auch ein Ende der Krise ganz ohne Zwangsmaßnahmen durchaus denkbar, wie das z. B. in Schweden der Fall ist. (Übrigens haben wir Ende Dezember hinsichtlich der an oder mit Covid Verstorbenen Schweden überholt.)
Das ist aber bei Gott kein Plädoyer gegen die Impfung, deren Vorteile nach allen bisherigen Erfahrungen die möglichen Risiken bei weitem übertreffen. Mit Unruhestiftern, welche sich als Impfgegner wichtig machen, möchte ich nichts zu tun haben. Aber ich kann mich auch in Menschen hineinversetzen, die wirklich Angst vor einer Spritze haben, deren Inhalt – im Unterschied zu den meisten langjährig erprobten Impfstoffen – diesen Vorzug nicht aufweist. Und deren Angst darf man nicht ohne Not niederwalzen. Auch das gebietet die vielstrapazierte Solidarität!!!
Sollte die Regierung nicht doch noch einlenken, dann ist der Verfassungsgerichtshof am Zug. Der wird sich hoffentlich weder von einer „Stimmung“ in der Bevölkerung noch von einer Rücksichtnahme auf etwaigen Gesichtsverlust, ganz gleich auf welcher Seite, beeinflussen lassen. Ich hoffe auf größtmögliche Objektivität und Rationalität der Richter, auch wenn mich diese gelegentlich schon enttäuscht haben.
Anlässlich der Neueinrichtung dieses Ordners habe ich das Internet nach Meldungen hinsichtlich des schwedischen Sonderweges im Umgang mit der Corona-Krise durchforstet und festgestellt, dass es gar nicht so einfach ist, sich in dieser Sache Klarheit zu verschaffen. Auffällig ist allerdings die in fast allen nationalen wie internationalen Medien vertretene und kaum näher begründete Ansicht, dass der Sonderweg gescheitert sei und die Kritik darüber in Schweden ständig zunehme.
Laut "Österreich", das uns tagtäglich mit aktuellen Zahlen versorgt, ist die durch Tests erhobene Zahl der Neuinfektionen derzeit tatsächlich höher als in Österreich. (Im Zusammenspiel mit einer hohen Impfrate, die derzeit bereits bei 40 Prozent liegt, könnte das für das baldige Erreichen einer Herdenimmunität aber durchaus nützlich sein.) Betrachtet man hingegen die Anzahl derer, die mit oder an Corona von Jänner bis Mai 2021 verstorben sind, so erlebt man beim Vergleich zwischen Österreich und Schweden eine Überraschung. Die folgende Tabelle enthält die Anzahl der "Corona-Toten" am 27. Mai 2021 (oben ) und am 29. Dezember 2020 (unten) in Österreich (links) und in Schweden (rechts):
Österreich Schweden
27. Mai 2021 10.573 14.451
29. Dezember 2020 5.931 9.617
Differenz 4.642 4.833
Wenn man berücksichtigt, dass Schweden um ca. 1,5 Millionen mehr Einwohner als Österreich aufweist, dann geht dieser Vergleich eindeutig zugunsten von Schweden aus, wo es in diesen fünf Monaten weder Lockdowns noch einen Maskenzwang gegeben hat, sondern lediglich Appelle, persönliche Kontakte einzuschränken bzw. dabei ein diszipliniertes Verhalten an den Tag zu legen, nebst Anleitungen dazu. Die vom Parlament bereits abgesegneten schärferen Maßnahmen hat die Regierung nicht in Kraft gesetzt; daher kann sich diese jetzt auch nicht mit "Lockerungen" brüsten und dafür lobpreisen lassen.
Die aus dem Jahr 2020 "mitgenommenen" höheren Zahlen sind einem nicht optimalen Schutz der besonders gefährdeten Altersgruppe geschuldet, was aber inzwischen stark verbessert worden ist. Bemerkenswert ist jedenfalls der Mut der schwedischen Regierung, trotz dieser Misere weiterhin auf den Rat ihres obersten Staatsepidemiologen Anders Tegnell zu hören, der von Anfang an auf Eigenverantwortung anstelle von strengen Vorschriften und Strafen gesetzt hat, was nicht nur der Lebensqualität der Schweden zugute gekommen ist, sondern - im gesamteuropäischen Vergleich - auch den Staatshaushalt weniger stark belastet und die Wirtschaft geschont hat.
dgm/28. Mai 2021